Liturgie - Der Zweite Blick
Auch wenn es vergeblich scheint oder gerade deshalb,
braucht die Welt große Beterinnen und Beter. Denn Beten ist nicht selbstverständlich. Es ist ein Irrtum zu glauben, früher hätten die Menschen mehr gebetet und heute würden die Menschen nicht mehr beten. Beten war schon immer eine umstrittene, schwierige und vor allem auch sehr intime Angelegenheit. Denn im Beten kommt der Glaube zu sich. Beten: Das ist das Tun des Glaubens schlechthin. Ja, daran erkennt man ihn geradezu. „Beten“ ist die Antwort auf die Frage: „Was machen Christen eigentlich?“.
In der Frauenpower der Witwe liegt die Botschaft:
Wenn es um Recht und Gerechtigkeit geht,
dann seid hartnäckig! Ermüdet nicht!
Lasst euch nicht beirren!
Bibelwort: Lukas 18,1-8 (Evangelium vom 29. Sonntag im Jahreskreis)
AUSGELEGT!
Gott wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen.
Was für ein hinreißendes Gleichnis. Wenn man es doch glauben könnte; und wenn Jesus doch bloß gesagt hätte, was er unter „unverzüglich“ versteht. Heute? Morgen? Später? Im Himmel? Für Jesus war die Zeit nicht das Problem. Er geht selbstverständlich davon aus, dass Gott Recht schaffen wird, wie es der Richter tut, der sich belästigt fühlt von der Frau und einen Schlag ins Gesicht befürchtet. Auch wenn Gott das nicht befürchten muss, wird er seinen Auserwählten zu Hilfe kommen. Nur: Wann wird er das?
Wir wissen ja, dass schon viele Menschen lange und vergeblich zu Gott geschrien haben: Schaffe uns Recht. Sie haben geschrien, weil sie nach menschlichen Maßstäben am Ende waren und nur noch auf Gott hoffen konnten. Und sie wurden, soweit wir das erkennen können, nicht erhört. Wir wissen nicht, was das für die bedeutet hat, die Gott angefleht hatten. Aber glücklich werden sie nicht gewesen sein. Und was machte das mit ihrem Glauben? Ganz einfach: Sie schrien weiter. Sie machten es wie die Witwe. Sie ließen Gott nicht in Ruhe. Luther nannte das Verhalten der Witwe einmal ein „unverschämtes Drängeln“. Jesus scheint es zu mögen, dieses Verhalten. Wir dürfen Gott nicht in Ruhe lassen. Wir sind seine Kinder; wir brauchen sein Recht. Und solange es nicht da ist, fordern wir es ein – wie die Witwe.
Michael Becker
Quelle: Bermoser + Höller Verlag AG
Grafik: Wim Johannesma
Foto: picture alliance/dpa|Friso Gentsch
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